Islamisches Zentrum Hamburg
Ich möchte dem Referat vorwegnehmen, dass es eine Verbindung ist von eigenen Gedanken und z.T. wortwörtlichen Widergaben aus verschiedenen Veröffentlichungen von Prof. Milad Karimi, Religionsphilosoph Univ. Münster.
Bismilahi Al-Rahman Al-Rahim
Wie alles, was ein gläubiger Muslim oder eine Muslima tut, beginne auch ich mit der bekannten Formel – Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.
…des Barmherzigen, der sich für uns die Barmherzigkeit zur Pflicht auferlegt hat (Q Sure 6/12) – so steht es in unserem Heiligen Buch geschrieben und so glauben und vertrauen wir auf Ihn.
Es wäre trotz der dem innewohnenden Faszination ein leichtes, Ihnen eine quantitative Aufzählung des Wortes Barmherzigkeit, der mit ihm verwandten Worte Güte, Gnade, Liebe, Großzügigkeit aller Substantive und Adjektive, die in der Selbstbeschreibung unseres erhabenen Schöpfers oder der daraus ableitbaren für das menschliche Zusammenleben erwünschten Tugenden zu präsentieren.
Viele vor mir, Muslime, Nichtmuslime, Theologen, Islam- und Sprachwissenschaftler, haben dieses bereits unzählige Male getan.
Immer dann, wenn es darum geht die gängigen Vorurteile und Klischees über den Islam, sein vermeintlich ausgeprägtes strafendes Gottes- und Jenseitsbild, seine vermeintlich ausgeprägte Gewaltaffinität zu widerlegen, dann werden diese Aspekte, dann werden diese Worte betont und die Anzahl, bzw. die Häufigkeit der oben genannten Einleitungsformel und die vielen, vielen Verse über Gottes Barmherzigkeit rezitiert. Meines Erachtens ist dies eine durchaus berechtigte Vorgehensweise, sie bleibt jedoch eine rein äußerliche Betrachtung und mehr noch: in einen Rechtfertigungsmodus möchte ich mich ganz bewusst nicht begeben.
Ich werde allerdings demgegenüber auch nicht den philosophischen Ansatz über Barmherzigkeit als eine von Gottes Wesenseigenschaften (sifat -al dhat) oder Gottes Tateigenschaften (sifat-al fi’l) erörtern. Auch das ist eher Aufgabe der Gelehrten.
Vielmehr möchte ich beschreiben, welche unmittelbare Bedeutung es für uns Gläubige hat, wenn im Islam von Rahman bzw. von der Rahma gesprochen wird. Ich möchte mich also dieser zentralen Thematik, der wir uns heute mit Ihnen den ganzen Tag aus verschiedenen
Perspektiven widmen wollen, von einer eher glaubenspraktischen Seite nähern und möchte mich damit einreihen in die weiteren Impulsreferate:
Ich trage in mir einen tiefen Gottesglauben, er führt und lenkt mich in jeder Situation; Vertrauen, Hoffnung und die Gewissheit über Seine Gnade, Seine Liebe und Seine endlose Barmherzigkeit, die mir widerfahren brauche ich vor niemandem beweisen oder gar nachweisen – sie sind da, denn Allah, Gott mein Schöpfer ist da.
Er verlässt mich nie und ist immer mit mir. Das ist das, was er mir und jedem von uns verspricht:
‚Und er ist mit euch, wo immer ihr auch seid’ (Q Sure 57/4).
Es ist m.E. ein zentraler Vers, wenn es um das geht, was mit Gottes Barmherzigkeit, auch wenn das Wort nicht explizit darin vorkommt, gemeint ist, nämlich die Nähe Gottes zu uns Menschen.
Ich war ein kleines Kind und hatte unzählige Male meinen Vater mit anderen Menschen über den Islam sprechen hören, dabei fiel mir oft ein Satz, den er mit der immer wieder gleichen Geste repetierte, besonders auf: „Gott unser Schöpfer ist uns näher als die eigene Halsschlagader“, dabei legte er jedes Mal seine linke Hand seitlich an seinen Hals.
Der Satz und die ruhige, vertrauensvolle Art, wie mein Vater ihn aussprach, zogen mich wieder und wieder aufs Gleiche in ihren Bann, er schien so geheimnisvoll, denn ich verstand ihn nicht;
Ich wusste nicht, was eine Halsschlagader ist und eigentlich in dem Alter auch nicht wer Gott ist, aber die immer wiederkehrende Geste zeigte mir, dass es scheinbar etwas für mich nicht Sichtbares, dennoch bei jedem von uns und aufgrund der Ruhe meines Vaters also ein sehr nahes und gutes Etwas sein musste.
Erst später, als Heranwachsende verstand ich, was eine Halsschlagader und viel wichtiger wer mein Schöpfer ist und dass mein Vater hier eine koranische Aussage rezitierte:
„Und wahrlich wir erschufen den Menschen, und Wir wissen, was er in seinem Inneren hegt und Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader“ (Q Sure 50/16).
Was hier deutlich werden soll, sind mehrere Dimensionen unseres Verhältnisses zu Gott, unserem Schöpfer, die alle mit einander zusammenhängen:
Der Glaube an Seine allumfassende Allmacht, Einzigartigkeit und Einheit als zentrales Element des Islam, ausgedrückt in unserem Glaubensbekenntnis, führt unmittelbar zu der Aussage über den Schöpfer als Allwissenden um alle Dinge und Geschöpfe.
In der Betonung Seiner absoluten Transzendenz, also jeglicher Sinnlichkeit und Erfahrung entzogenen Präsenz, mag der oder die eine oder Andere nur eine Fremdheit und eine unüberbrückbare Entfernung erkennen; soll jedoch gerade in ihr der ganz nahe Gott/ Schöpfer empfunden werden (Karimi, 2015, DLF Beitrag).
Der Koran enthält für Ihn eine Fülle der schönsten Namen und Bestimmungen und vor allem: Er wendet sich in seiner Offenbarung uns zu – ja er sehnt sich geradezu nach seinen Geschöpfen: Ohne ihrer, der Schöpfung also, dem absolut Anderen von ihm, zu bedürfen verlangt Gott in Seiner Barmherzigkeit, ja sehnt sich nach ihr (Karimi 2014, S. 114).
Seine Barmherzigkeit wird zur „operationalen Schlüsselfigur“, die den genuinen „Beweggrund (movens) der Schöpfung darstellt“ (ebd.)
„Und wir haben ihnen gebracht eine Schrift, die Wir mit Wissen darlegten als Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Menschen, die glauben“ (Q Sure 7/ Vers 52).
Dieser Akt Seiner Offenbarung von Anbeginn der Menschheit ja der Schöpfung an, findet für uns Muslime seinen Gipfel im heiligen Koran und wird zum Offenbarwerden Seiner Barmherzigkeit und die Person des Propheten damit zum Gesandten der Barmherzigkeit (Karimi 2014, S. 115).
Barmherzigkeit steht dabei nicht in einer Dialektik zu Seinen anderen Eigenschaften – er ist nicht mal barmherzig und mal nicht – sondern Sein sehnendes Verhalten ist sein Wollen im emphatischen Sinne des Wortes, also trösten, tragen, erhöhen (Karimi 2014, S.115)“.
Er sagt uns, dass er da ist, uns Gehör schenkt, „Id’uni – astajib lakum“ – „betet zu mir, ich werde euch erwidern“ – er nennt uns damit also den direkten, unmittelbaren Modus in dem wir in Kontakt treten können zu ihm (das Gebet) und er verspricht „la ta’khudhahu Sinnatun wa la noum“ – „ ihn ergreifen nie Schlummer oder Schlaf“.
„Lahu ma fil samawati wal ardh“ – „Sein ist, was in den Himmeln und auf Erden“ – Seine Anwesenheit durchdringt und überbrückt alle vorstellbaren und unvorstellbaren Grenzen- damit ist er nicht fern, sondern unmittelbar und nah (Karimi 2015, DLF-Beitrag).
Seine Gegenwart in allem zu erfühlen, zu erblicken, sich dabei nach ihm zu sehnen, ist die „höchste Bestimmung, wenn vom Islam als Religion der Hingabe gesprochen wird“ (ebd.).
Und seine Gegenwart ist nicht bloß Gegenwart, sondern sie ist ein „Mitsein“ – und „Er ist mit euch, wo immer ihr auch seid“ (ebd).
Gott ist uns nah, auch wenn Schmerz, Leid, empfundene Ungerechtigkeit uns schrecken, verzagen und zweifeln lassen – „vielleicht ist es gerade das, was am meisten schmerzt“ wenn wir Ungerechtigkeit empfinden, oder gar an seiner Barmherzigkeit zweifeln – ist es also nicht gerade „Seine Nähe im Angesicht des Bösen?“ „Wenn alles eine Prüfung sein soll, wer könnte sie bestehen“ – Die häufig gestellte Frage darf eigentlich nicht lauten: „Wo ist Gott in dieser bösen Welt, vielmehr sollte sie lauten: wo sind wir in dieser bösen Welt“ (ebd.)
„Uns Seiner Barmherzigkeit bewusst zu sein, diese Gewissheit im Herzen zu tragen und in Verantwortung vor ihm und vor den Menschen zu handeln, das sollte unser Antrieb und gleichzeitig unser Trost sein.
Glaube wird quasi zum Vollzug dieser Barmherzigkeit insofern, als sich im Glaubensakt die Erwiderung jener Gottessehnsucht zeigt (Karimi 2014, S.115).
Ich möchte an dieser Stelle nochmals mit Milad Karimi enden, der den vom großen Mystiker Maulana Djalalul-din Rumi aus dem 13.JH als Gedicht verfassten Kommentar zu dem vorangestellten Vers übersetzt:
„Wenn wir einschlafen, sind wir trunken von Ihm / Und wenn
wir erwachen, sind wir in den Händen von Ihm / Wenn wir weinen, sind wir
Seine Regenwolke / Und wenn wir lachen, so sind wir Seine Blitze / Wenn wir
wütend sind und streiten, sind wir ein Bild Seiner Gewalt / Versöhnen wir
uns und vergeben wir, dann sind wir ein Bild Seiner Barmherzigkeit / Wer
sind wir in dieser schwierigen Welt?“
Quellen:
Der heilige Koran
Karimi, Milad (2014): Wie Gott als Barmherzigkeit gedacht werden kann. Schriftenreihe Graduiertenkolleg Islamische Theologie.
Karimi, Milad (2015): Gott ist nah. Erklärung des Verses 4/Sure 54. Beitrag DLF, Der Koran erklärt.