Alle Religionen sprechen in höchsten Tönen von Gottes Barmherzigkeit. In ihr zeigen wir uns die Schätze unserer Religion, unserer Verbindung und Beziehung zu Gott. Gottes Barmherzigkeit charakterisiert Gott und seine Beziehung zum Menschen und ist laut der Heiligen Schriften Vorbild für die Beziehung der Menschen untereinander. Ich habe aus den biblischen Ursprungsworten für Barmherzigkeit ihren Wertgehalt festgestellt und den Platz von Barmherzigkeit in unserem Leben.Die Zusammenfassung:
Barmherzigkeit im Sinne von Mutterschößigkeit „rachamim“ ist:
- Im Mutterleib: Hülle geben, das ist Schutz und Wärme,
- Fülle geben, das sind die Lebensnotwendigkeiten wie Nahrung, Wasser, Luft.
- Wachsen lassen, das ist Geduld haben und Vertrauen schenken für die persönliche Entwicklung,
- gebären, das ist: unter größtem persönlichen Krafteinsatz in die Freiheit geben,
- auf den Schoß nehmen, das heißt: die Sprache und die Welt lehren, als Zufluchtsort bleiben und in Unsicherheit und Krise Halt geben; den Sterbenden bergen (pieta)
- auf den Arm nehmen, an den Busen legen, das ist: bemitleiden und trösten, Geborgenheit geben, verzeihen
Barmherzigkeit – Maria, Mutter der Barmherzigkeit
Maria gilt als Spiegelbild göttlicher Barmherzigkeit und als Urbild menschlicher und christlicher Barmherzigkeit.
Als Grundlage für die marianische Spiritualität kennen wir in Lk 1, 26– 38 die Verkündigungsszene; in Luk 2 die Geburt Jesu und die Flucht nach Ägypten, sein Verschwinden als 12-Jähriger im Tempel; bei Joh 2, 1-12 das Auftreten der Mutter Jesu bei der Hochzeit zu Kanaa, bei Joh 19, 26 f die Szene, in der Maria unter dem Kreuz steht.
Maria fasst im Magnifikat die gesamte Geschichte des Heils zusammen und beschreibt sie als Geschichte des Erbarmens Gottes (Lk 1, 50), der allein aus Gnade handelt, an ihr und an uns Menschen.
Wir Christen erkennen: Gott erwählt Maria aus Gnade zur Christusträgerin. Sie wird Werkzeug von Gottes Barmherzigkeit. Sie ist Arche des neuen Bundes und Tempel des Heiligen Geistes. Sie ist die Urzelle des neutestamentlichen Volkes Gottes. Als Frau aus dem Volk ist sie Repräsentantin des Kleinen und Stillen im Lande und Keimzelle der Kirche. „Die Mariologie ist die radikalste theologisch mögliche Kritik an einer reinen Männerkirche“. (Kasper, Barmherzigkeit, S. 205)
„Sie ging den Pilgerweg des Glaubens, musste viele Schwierigkeiten und Bedrängnisse ertragen und durch sie hindurchgehen, die Niederkunft in einer Notherberge, bei der Flucht nach Ägypten, bei der Suche nach ihrem 12-jährigen Kind, bei ihrem Befremden über das öffentliche Auftreten ihres Sohnes, den sie in die Familie zurückholen wollte, und schließlich im tapferen Aushalten unter dem Kreuz ihres Sohnes. Sie hielt den zerschundenen Leib ihres toten Sohnes auf dem Schoß – so stellen es viele Künstler dar – die schwerste Erfahrung, die einer Mutter zustoßen kann. Nichts ist ihr erspart geblieben. Sie hat alles selbst erfahren und nimmt vorweg, was später in den Seligpreisungen den Armen, Verfolgten, Traurigen zugesagt wurde. ( Mt. 5, 2 – 12; Lk 6, 20 – 26). “ (Kasper, Barmherzigkeit. S. 206)
Jesu Freund Johannes hat Maria in seinen Wirkungskreis und in seine Berichte aufgenommen (Joh 21, 22). Sie war und ist Zeugin und Werkzeug der Barmherzigkeit Gottes. Maria hat prophetisch vorausgesagt:„ Von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“ (Lk 1,48).
Maria im Glauben der Christlichen Kirchen – Mutter des göttlichen Erbarmens
Die katholischen und orthodoxen Kirchen verehren Maria in ihrer Liturgie, in Gebeten, Hymnen und Gesängen. Die evangelische Kirche tut sich schwerer mit diesen Formen. Als evangelische Christin, habe ich die spirituelle Bedeutung Mariens durch die feministische theologische Forschung neu entdeckt. Maria wird verehrt als Mutter aller Leidenden, Trauernden, Bedrängten und des Trostes Bedürftigen, als vollkommener und erlöster Mensch, als Gottesgebärerin, als Mutter des göttlichen Erbarmens.
Christliche Frauenorden
Noch heute gibt es in Deutschland 130 christliche Frauenorden als geistliche und caritative Gemeinschaften. Jeder Orden setzt sich einen Schwerpunkt im alltäglichen Glaubensleben. Dies ist neben der existenziellen Versorgung ihrer Mitglieder und dem Gebet z.B. der besondere Einsatz für die Bildung, besonders von Mädchen, für Aufgaben der Barmherzigkeit in Gemeinde, in Krankenhäusern, in der Fürsorge in der Gesellschaft und in der Seelsorge. Die Not von Familien und von jungen und alleinstehenden Frauen war häufig der Anlass für die Gründung eines Frauenordens in den letzten Jahrhunderten. Die Namen der Orden deuten oft schon an, dass sie im Namen ihres Glaubens an Gott, Jesus und seine Mutter Maria für Nächstenliebe und Barmherzigkeit einstehen, beispielsweise
Schwestern der christlichen Liebe
Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu
Schwestern des guten Hirten
Schwestern unserer Lieben Frau
Töchter der Göttlichen Liebe
Heute sind viele Orden und Stifte, die von und für Frauen gegründet wurden, in einigen Funktionen nicht mehr notwendig.* Mädchen und Frauen haben wie Jungen und Männer in Deutschland das Recht auf Bildung und eigene Berufe. Die Häuser der Fürsorge bekamen im Laufe der Zeit oft eine neue Rechtsform und wurden als Institutionen und Werke Teil unserer deutschen Sozialversorgung. So ist z.B. die Marthastiftung in Hamburg ursprünglich im 19. Jh. für die Ausbildung und Unterbringung von Mädchen und jungen Frauen gegründet worden. Heute ist sie eine Wohneinrichtung für Senioren, und die Stiftung betreibt mehrere Einrichtungen für Betreutes Wohnen und Pflegeheime für alte Menschen. Mit den Erträgen von gestiftetem Kapital können die Häuser betrieben werden mit regulären Arbeitsplätzen und professionellen Angeboten. Die Versorgung und Pflege von Menschen im Alter ist zur Institution geworden. Das entlastet Frauen in Familien von der familiären Pflege alter und kranker Angehöriger, bzw. können sie diese Arbeit als Beruf ergreifen, für den sie eine Ausbildung und eine Bezahlung erhalten.
*Michael Fischer, Barmherzigkeit provoziert, Vom heilenden Dienst zum kirchlichen Dienstleistungsunternehmen, Rheinbach 2012
Barmherzigkeit – Helfendes Engagement von Christen in der deutschen Gesellschaft
Laut Freiwilligensurvey des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend waren 2009 36 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren längerfristig freiwillig engagiert. Die Anzahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter der Evangelischen Kirche in Deutschland liegt beispielsweise bei 1,1 Millionen Menschen. In Hamburg feierte diese Woche, am 10. November 2015, die Evangelische Diakonie ihren 167. Geburtstag in der Jacobikirche. Zu ihren „Hoffnungsorten“ gehören zahlreiche existenzunterstützende Angebote, wie man verschiedene Formen der Armenhilfe oder früher Almosen heute nennt: Übernachtungshäuser für Obdachlose, Mitternachtsbus, Kirchencafé für Einsame, Beratungsstellen für in Schulden Gefallene, Mütterberatungsstelle, Kleiderkammer, Essenstafeln und vieles mehr.
Die Armutslage der Menschen in Deutschland verstetigt sich. Institutionalisierte verlässliche Hilfe ist notwendig, ebenso, wie die Akuthilfe, die jetzt viele ehrenamtliche Helfer/innen an Schutz suchenden Flüchtlingen geleistet haben.
Die Katholische Caritas hat 2011 in ihren deutschen Diözesen eine Untersuchungen gemacht mit dem Untertitel: Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit. 94 % der Helfer- und Helferinnen kommen aus einer Kirche. Die Motive des Einsatzes sind sowohl der Wunsch, Soforthilfe zu leisten, Armen zu helfen als auch konzeptionelle Hilfe zu geben und Armut insgesamt zu bekämpfen. Die engagierten Bürgerinnen und Bürger erwarten nicht den Ausschluss der Armen durch die Verwaltung, sondern beteiligen sich durch ihre Mithilfe an der Erhaltung der rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Demokratie, in der jeder Einzelne Teilhabe hat und seine Würde bewahren kann.
Mich interessierte beim Lesen daran besonders die Rolle der Frauen. Die Soziodemografie der Mitarbeitenden für Existenzunterstützung zeigte (S. 28), dass Frauen den größten Teil der Arbeit übernehmen:
Die gesellschaftlichen Dienste der Barmherzigkeit werden zu 69% von Ehrenamtlichen geleistet, zu 25% von Hauptamtlichen, zu 6% von 1 € Jobber
Unter den Helfer/innen insgesamt sind 73% Frauen und 27% Männer.
Bei den ehrenamtlich Tätigen sind es 80% Frauen und 20% Männer.
Bei den hauptamtlich Tätigen und bezahlten Helfer/innen sind 55% Frauen und 45% Männer.
Aspekte der Barmherzigkeit
Barmherzigkeit hat eine Richtung: man gibt sie oder man bekommt sie. Das fühlt sich verschieden an. Die Helfer/Innen der „milden Gaben“ erlebten durch ihr Tun, mit den Nehmenden auf Augenhöhe zu sein, die Erfahrung von Dankbarkeit. Ihre Zufriedenheit und ihr Selbstwertgefühl erfuhr durch das Helfenkönnen eine Stärkung. Bei den Empfangenden der Hilfe oder der „Barmherzigkeit“ waren die positiven Gefühle nicht so eindeutig festzustellen. Die Beziehung hatte für sie eher ein Gefälle. Sie fühlten Abhängigkeit, Ungerechtigkeit, Angst und keine Solidarität mit anderen Hilfesuchenden.
Für Gebende und Nehmende hatten die „Guten Taten“ dann ihre Grenze, wenn sie die Notleidenden ausgrenzte und auf Dauer im Abseits hielt, wenn nichts mitgestaltet oder verändert werden kann, wenn Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Angeboten nicht möglich wurde.
Das Gelingen von „Taten der Barmherzigkeit“ verträgt es außerdem nicht, wenn man sie zum verpflichtenden Programm für die Mitarbeiter/innen und die Nutzer erklärt, um Kosten zu sparen. Ein verlässliches Angebotsspektrum braucht politische Entscheidungen. Da sollten Frauen selbstbewusst auftreten und ein Leitbild sozialer Arbeit einfordern, in der eine solidarische Gesellschaft zum Bruttosozialprodukt unseres Landes gehört, so dass aus der individuellen Haltung der Barmherzigkeit in Selbstbestimmung neues barmherziges Handeln wird.
„Diene mit Barmherzigkeit – und tue es mit Lust!“
Ina Praetorius und Antje Schrupp sind bekannte feministische Theologinnen aus Deutschland und der Schweiz, die die Geburtlichkeit menschlichen Seins und die Barmherzigkeit als Grundlage von Leben und Arbeit verstanden wissen wollen. Diesen weiblichen Aspekten menschlicher Haltung räumen sie unbedingte Priorität für die Wertbegriffe unserer Gesellschaft und ihrer Entwicklung ein.
- Arbeit ist immer Sorge für andere und damit Barmherzigkeit. Ein Mensch allein ist noch kein Mensch, er braucht eine Hilfe, ein Gegenüber, um existieren zu können. Menschen sind immer viele, und Arbeit ist von Beginn an Arbeitsteilung. Wir arbeiten immer füreinander und sind immer darauf angewiesen, dass andere für uns arbeiten. Zu jeder Zeit sind alle auf andere angewiesen. Wir alle sind Geborene, Töchter und Söhne von Müttern, und das heißt: ausgestattet mit dem Wissen, dass für uns gesorgt werden muss und dass für uns gesorgt wurde und wird. „Wir haben eine gebürtliche Daseinsform“ . (Ina Prätorius, Erbarmen, Gütersloh 2014).
Paulus schreibt im Römerbrief: „Diene mit Barmherzigkeit und tue es mit Lust!“ – Diese Aufforderung ist an Männer und an Frauen in der jungen Gemeinde gerichte.t Sie ist ein allgemein gültiges Prinzip, nicht nur die Frauen, eine Anleitung dafür, wie Menschen tätig sein sollen.
- Freude an der Arbeit, die mir Freude macht, ist echte Lebenszeit und gibt Lebenssinn.
Freude an der Arbeit sollte größere Priorität haben in der Gesellschaft als Status oder Geld. Frauen sollten in ihrer Vorrangentscheidung für sinnvolle, mit Freude ausgeübte Arbeit Vorbild in der Gesellschaft sein.
Markt, Geld und Gesetz haben sich in unserer Wahrnehmung dazwischen gestellt. Sie verführen dazu sich autonom und von der gegenseitigen Abhängigkeit frei zu glauben. Unsere Wirtschaft leidet unter dieser symbolischen Lüge der Beziehungslosigkeit.
Man muss sich klar machen, dass abgehobene, abstrakte wirtschaftliche Transaktionen etwas mit konkreten Beziehungen zu konkreten Menschen zu tun haben. Selbst abstrakte, abgehobene Probleme wie „Klimaentwicklung“ haben etwas mit konkreten Menschen und mit Beziehung zu tun. Diese Einsicht fällt mehr Männern schwer als Frauen.
- Das Dienen – wer sind wir, wenn wir arbeiten?
Die männliche symbolische Ordnung misst die Qualität und Bedeutung von Arbeit gern in Status und dessen Symbolen und in Geld oder in Macht innerhalb einer Hierarchie. Im Römerbrief sagt die Bibel in einigen Übersetzungen: „ Diene mit Barmherzigkeit und tue es mit Lust.“ Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt: “ Wer eine Leitungsaufgabe übernimmt, fülle sie mit Begeisterung aus!“ Dienen ist in Wahrheit „Leiten“. Die Amtsbezeichnung Diakon, Diakonat ist eine offizielle Funktion und bedeutet, dass ich meine Person, meine Kräfte, meine Fähigkeiten und Möglichkeiten dem Anliegen der Arbeit, einem größeren Sinn unterordne – und nicht irgendeinem Chef oder Herrscher. Im Dienst übernehme ich Verantwortung für das Ganze, egal, an welcher Stelle. Es geht um die Notwendigkeiten der Welt und das Zusammenleben der Menschen in ihrer ganzen Pluralität und nicht um meinen persönlichen Spaß oder um die Ansprüche, die andere an mich stellen.
So bindet das Dienen die Barmherzigkeit und die Freude sinnvoll zusammen.
- Das Geld – Arbeit und Einkommen sollte voneinander abgekoppelt sein. Als Tauschmittel wird Geld bei uns gebraucht, um leben zu können. Mit der Verwirklichung des Modells Bedingungsloses Grundeinkommen für alle“ könnte wieder mehr Begeisterung und wirkliche Freude bei der Arbeit einkehren, weil die Menschen in ihren Grundbedürfnissen abgesichert sind. Sie müssen nicht für Geld weiter arbeiten, sondern für sinnvolle und notwendige Arbeit, für echte Bedürfnisse, für kreative Lösungen von Problemen. Die zahlreiche unbezahlte Familien, die sowieso schon geleistet wird, und alle Care-Arbeit wäre aufgewertet. Kinder, Alte, Behinderte, Kranke würden nicht in Armut fallen und angewiesen sein auf existenzsichernde Almosen aus den Sozialsystemen. Ein neues Verständnis von Arbeit würde auch ihnen Einkommen, Würde und Arbeit und Lebenssinn geben, und unsere Sozialsysteme könnten entsprechend verändert werden. Die Gesellschaft wäre eine Solidargemeinschaft ohne Wertigkeitsgefälle. (vgl. Antje Schrupp, s.u.)
- Frauen sollten ihre Fähigkeit Beziehungen aus Barmherzigkeit heraus zu gestalten und Arbeit als wichtiges Beziehungsgeschehen zu werten, selbstbewusster als Maßstab für Gesellschaftsentwicklung einbringen.
Literatur
- Ina Praetorius, Erbarmen – unterwegs mit einem biblischen Wort, Gütersloher Verlagshaus 2014
- Walter Kardinal Kasper, Barmherzigkeit, Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg 2012
- Dimitré Dinev, Barmherzigkeit – Unruhe bewahren, Salzburg 2010
- Caritas in NRW (Hg.), Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern? Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit, Freiburg 2011
- Michael Fischer, Barmherzigkeit provoziert, Vom heilenden Dienst zum kirchlichen Dienstleistungsunternehmen, Rheinbach 2012
- Silvia Schroer, Thomas Staubli, die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998
- Antje Schrupp, „Diene mit Barmherzigkeit – und tue es mit Lust“, 2007, Vortrag in der Dreikönigskirche Dresden